HORIZONT
Was ist der Horizont? Der Horizont ist die Linie, die Himmel und Erde trennt. In der Natur existiert diese Linie jedoch nicht, ebenso wenig ist der Horizont konkret fassbar, wo er als Metapher dient. ”Hat man sich nicht ringsum vom Meere umgeben gesehen, so hat man keinen Begriff von Welt und seinem Verhältnis zur Welt.” Goethe machte diese Erfahrung auf seiner Seereise von Neapel nach Sizilien. In der Kunst taucht der Horizont zu Beginn der Neuzeit auf, als Hilfsmittel zur Konstruktion eines perspektivischen Bildes. So sei er ”kein Bildmotiv im herkömmlichen Sinn”, schreibt der Literaturwissenschaftler Alfred Koschorke, ”sondern zunächst eine technische Größe” – allerdings eine, die auch die Fantasie von Politikern beflügelt. ”Am Horizont ist schon der Kommunismus sichtbar”, erklärt Chruschtschow in einer Rede. Zwischenfrage eines Zuhörers: ”Genosse Chruschtschow, was ist das: Horizont?” ”Schlag doch mal im Lexikon nach” antwortet Nikita Sergejewitsch. Dort stand folgende Erklärung: ”Horizont – eine Scheinlinie, die den Himmel von der Erde trennt, die sich entfernt, wenn man sich nähert.”
Anja Bremer und Beate Kirsch gelingt es, sich dieser Scheinlinie zu nähern. Dafür unternahmen sie eine Expedition auf die Sandbank Süderoogsand in der Nordsee. An diesem unbewohnten Ort fanden sie sich ähnlich von der Linie umfangen wie Goethe auf seiner Seereise. Sie dachten darüber nach, wie die natürliche Distanz zu überwinden wäre, um bis in mikroskopische Dimensionen hinein in den Horizont einzudringen. Die Trennlinie wird zu einer Nahtstelle, die sich als Lichtprojektion zu öffnen scheint wie ein Riss oder eine Wunde. Dies ist eine andere Projektion als diejenige, die der Horizont landläufig darstellt. Er steht nicht mehr für Rationalität und Naturbeherrschung, für die projektive Überschreitung jeder Grenze ins potentiell Unendliche. Anja Bremer und Beate Kirsch geben dem Horizont etwas von der archaischen Macht zurück, die unsere fernen Vorfahren von der Überquerung des Ozeans abhielt. Die Distanz zu einer Linie, die es in der Natur nicht gibt, ist nicht in erster Linie eine natürliche, beziehungsweise geographische. Die Distanz betrifft vor allem die INNERE Natur, die Gefühle und Ängste, die man sich durch sogenannte Naturbeherrschung vom Leibe zu halten vermag. Der “brennende” Horizont aktualisiert das paradoxe Verhältnis von Distanz und Sehnsucht, das die Kunst der Romantik prägt. Die Entlastung durch Distanz, die sogenannte Naturbeherrschung, geht immer wieder nur unzureichend auf, weil sich die Sehnsucht, die man zu stillen hofft, gerade durch die Distanz häufig ins Unermessliche vergrößert.
Ludwig Seyfarth
VIDEO / VIDEOSTILLS / PHOTOGRAVUREN / C-PRINTS / INKJET-PRINTS
TEXT Ludwig Seyfarth
FOTOS KIRSCH BREMER ARTANDARCHITECTURE
PROJEKTZYKLUS 2000-2002
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AUSSTELLUNGEN
Kunstfrühling, Gleishalle am Güterbahnhof, Bremen / 2014
HORIZONT – VIDEO, Projektion auf LED screen Autostadt Wolfsburg / 2006
LICHT PLATZ HORIZONT, Kunsthaus Hamburg, Hamb. Architektur Sommer 2003 / 2003
DISTANT PLACES, Laveshaus Hannover, Architektenkammer Niedersachsen / 2003
HerkunfT unbekannt, Galerie Frehrking Wiesehöfer, Köln / 2003
Eine Architektur für das Museum für Werdende Kunst, Kulturbahnhof Kassel / 2000
Projektion IV – Horizont, Ausstellungsraum Grottenstraße, Hamburg / 2002
HORIZONT, art agents gallery, Hamburg / 2001
